Wir waren auf dem direktesten Weg aus Berlin rausgefahren, den Frühverkehr hinter uns lassend, und steuerten durch die Vororte und über abgelegene Wege und einsame Landstraßen. Wobei sich als Erstes bemerkbar machte, dass wir keine Landkarte hatten. Nur einen Straßenplan von Berlin. ›Landkarten sind für Muschis‹, sagte Tschick, und da hatte er logisch recht.

2010 stiegen zwei Vierzehn­jährige in einen hellblauen Lada und schlingerten über ostdeutsche Straßen dem Erwachsen­werden entgegen. Mit Tschick schuf Wolfgang Herrndorf eine witzige, wehmütig-machende, lebens­bejahende Erzählung vom großen Aufbruch, von der Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben. Das Buch entwickelte sich zu einem Bestseller, es wurde mehr als eine Million Mal verkauft, in über 30 Sprachen übersetzt und von Fatih Akin verfilmt.

Wolfgang Herrndorf konnte diesen Erfolg nur kurze Zeit genießen. Am 26. August 2018 jährte sich sein Tod zum fünften Mal.

1965–1986
  Kindheit und Jugend

Wolfgang Herrndorfs Kindheit in Norderstedt war von intensiven Natur­erlebnissen, maximaler Freiheit, aber auch von einem Gefühl existenzieller Fremdheit geprägt. Während er in seinen ersten Lebensjahren noch von vielen Spiel­gefährten umgeben war, veränderte sich dies spätestens mit dem Wechsel auf das Gymnasium. Wolfgang wurde zum Einzel­gänger. Er begeisterte sich für Mathematik und Physik, tüftelte an Schach­problemen oder baute Bumerangs. Doch er war kein Nerd im klassischen Sinne: Er schätzte jede Art von sportlicher Aktivität, turnte, spielte Eishockey, Handball und Fußball. Hinzu kam eine besondere Liebe zu Literatur und Kunst. Häufig besuchte er die Hamburger Kunsthalle. Er malte und zeichnete auch früh selbst: klassische Landschaften, Porträts, Stilleben.

Nach Abitur und Zivildienst entschied er sich gegen ein Mathematik- und Physikstudium (und gegen das damit verbundene Stipendium). Er beschloss einen weniger »vorge­zeichneten« Lebensweg zu gehen und zog nach Nürnberg, um Malerei zu studieren.

Porträt Christian Herrndorf (1985)
Porträt Katrin Herrndorf (1985)
Von frühester Kindheit an hatte ich die Vorstellung, nicht von dieser Welt zu sein. Ich sah aus und redete wie die Erdlinge, kam aber in Wirklichkeit von der Sonne. Das erklärte das seltsame Anderssein der anderen. Aus mir selbst rätselhaften Gründen durfte ich mit niemandem über meine Herkunft sprechen. Meine Mission war unklar. Ich hielt es für eine gute Idee, erst mal alles zu beobachten.
Ich und Hund am Kreuzweg (1985)
Ohne Titel, aus dem Wittmoor in Norderstedt (198?)

1986–1992
  Studium in Nürnberg

Wolfgangs Interesse galt jedoch nicht der Kunst der Gegenwart. Er verehrte Vermeer, van Eyck, Holbein und Dürer. Ihn faszinierten das Licht, die perfekten Kompositionen, die meisterhafte Beherrschung der Perspektive, kurz: die technische Vollendung der alten Meister. Mit der Akademie und dem Zeitgeist der 80er konnte er nichts anfangen – und die Akademie und der Zeitgeist nichts mit ihm. Die Kunst­schule besuchte er nur selten, die meiste Zeit verbrachte er in seinem kleinen Zimmer mit der Nummer 27 in der Stadtmauer am Nürnberger Westtor und konzentrierte sich auf das Erlernen und die Vervoll­kommnung seiner Fähigkeiten in der Akt-, Landschafts- und Porträtmalerei. Er beschäftigte sich intensiv mit der Lasurtechnik in der Ölmalerei, aber die Ergebnisse konnten seinen eigenen hohen Ansprüchen nicht standhalten. »Ich konnte nicht das, was ich wollte«, erklärte er 2012 in einem Interview.

Obwohl Wolfgang mit seiner Professorin im Dauerclinch lag, wurde er mit einem Akademie­preis und einer Belobigung gewürdigt. Das Studium schloss er als Meister­schüler ab – in Wolfgangs Augen waren dies jedoch Auszeichnungen ohne besonderen Wert, und er erwähnte sie fast nie.

Zimmer in der Nürnberger Stadtmauer
Selbstporträt mit Kopftuch
Selbstporträt mit Stoffhase
Votivbild
Studentenausweis
Ohne Titel (1991)
Ohne Titel (1986-1992)
Ohne Titel (1991)

1993–2001
  Arbeit als Illustrator

Spätestens nach dem Studium wollte Wolfgang nicht mehr malen. Bei der Nürnberger Post arbeitete er ein Jahr im Nachtdienst. Er verlud Säcke am Gleis. »Selten hat mich etwas glücklicher gemacht, als dieser Gehaltsscheck«, schrieb er später. Dennoch kündigte er seine Stellung und zog mit einem Freund nach Berlin, erst nach Neukölln, dann in die Novalisstraße in Mitte.

Er bewarb sich bei der Titanic als Zeichner. Ab 1994 arbeitete er regelmäßig für das Satiremagazin.

Winterfreuden
Der Urlaub des Kartographen
»Ford. Die tun was.« aus Titanic 10/96
Hoffentlich ist es Wurst
Caspar David Friedrich, Im Uttenwalder Grund, 1823
Caspar David Friedrich, Im Uttenwalder Grund, 1823
Pablo Picasso, Gauklerfamilie, 1904
Pablo Picasso, Gauklerfamilie, 1904
Sieneser Meister: Der hl. Helmut und Szenen aus seinem Leben, um 1280
Sieneser Meister: Der hl. Helmut und Szenen aus seinem Leben, um 1280
René Magritte, Die unendliche Einheit, 1948
René Magritte, Die unendliche Einheit, 1948
Lucas Cranach d.Ä., Porträt des Reichskanzlers Kohl, 1526
Lucas Cranach d.Ä., Porträt des Reichskanzlers Kohl, 1526
Peter Blake, w m, 1974/75
Peter Blake, w m, 1974/75
Robert Indiana, Kohl, 1968
Robert Indiana, Kohl, 1968
Carl Spitzweg, Das Ständchen, 1860
Carl Spitzweg, Das Ständchen, 1860
Vincent van Gogh, Bildnis Helmut Kohl, 1888
Vincent van Gogh, Bildnis Helmut Kohl, 1888
Edward Hopper, Nachtgedanken, 1932
Edward Hopper, Nachtgedanken, 1932
Georg Baselitz, Ohne Titel IX, 1982
Georg Baselitz, Ohne Titel IX, 1982
Jan Vermeer van Delft, Der Briefleser, um 1665
Jan Vermeer van Delft, Der Briefleser, um 1665

Wolfgang war in der Lage jeden Stil zu kopieren, und galt in der Redaktion bald als »Allzweckwaffe«. Er konnte »Kolumnen illustrieren, Witze machen, erratische doppelseitige Gemälde hinzaubern«, so Oliver Maria Schmitt, ehemaliger Titanic-Chefredakteur.

Aufmerksamkeit erregte Wolfgang auch im Kanzleramt mit seinem 1998 im Haffmans-Verlag erschienenen Kalender Klassiker Kohl. Das Kohl-Porträt im Wandel der Zeiten. Wolfgang malte den damaligen Regierungschef im Stile von Magritte, Baselitz, Cranach und Vermeer.

Ulrich Holbein wurde Zeuge, wie Helmut Kohl den Kalender auf der Frankfurter Buchmesse durchblätterte:

Kohl – die Zunge öfters in der Mundspalte als auf seinen schaden­frohesten, titanic­tauglichsten Fotos – gab pro Blattherum­reißung einen Kurz­kommentar: ›Gutt … nich so gutt … Lucas Cranach – auch gutt.‹ […] Die Bildbeiträge von Edward Hopper, 1932, Kohl in Nachtgedanken versunken am nächt­lichen Hotelfenster, und von Plakat­künstler Robert Indiana, 1968, einer schockbunten Buchstaben­kombination aus K und O und H und L, wurden unverstanden überblättert. Georg Baselitz wurde – für die eine Sekunde seines Vorbei­rauschens – umgedreht, wie es sich für ein von müßigen Vorinformationen unbelastetes Naturkind geziemt.
Coverillustration zu Peter Köhler/Jürgen Roth: »Edmund G. Stoiber - Weltstaatsmann und Freund des Volkes« (Eichborn 2002)

Wolfgangs Kontakte und Portfolio wurden mit der Zeit immer umfangreicher: Er arbeitete für Eichborn, den Eulenspiegel, die Edition Tiamat, den Nautilus-Verlag, die Sonntagsbeilage des Berliner Tagesspiegels. Er illustrierte »öde Orte« oder »peinliche Persönlichkeiten«. Gemeinsam mit Jürgen Roth gab er »Heribert Faßbender – Gesammelte Werke« heraus. Das Buch verbindet die Transkription von Faßbenders Kommentaren zum EM-Spiel Italien – Deutschland von 1996 (»Fuser./­Häßler./­Klinsmann./­Ziege!! Wunderbarer Paß!!! Schade.«) mit Zeichnungen und einer absurd üppigen, gleichwohl fiktiven Editionsarbeit.


Coverillustration zu Gabriel Josipovici: »Jetzt« (Haffmans 2000)
Coverillustration zu Susanne Fischer: »Gefälschte Eltern«, (Haffmans 1998)
Coverillustration zu Klaus Bittermann: »Warum sachlich, wenn's auch persönlich geht, Jahrbuch 1999«, (Edition Tiamat 1999)
aus Jürgen Roth / Wolfgang Herrndorf (Hg.) »Heribert Faßbender Gesammelte Werke Band IX/5
Europameisterschaft 1996: Italien – Deutschland«
(Klartext Verlag 1998)
In der Fortbildung II
Günter Grass domestiziert die vom Aussterben bedrohte Prosapause

Den größten Eindruck hinterließen aber wohl die Arbeiten, in denen Wolfgang Malkunst, Kultur­geschichte und Komik kombinieren konnte, wie z.B. beim Handbuch der literarischen Hocherotik. Aber er haderte immer mehr mit seinem Beruf. Jörn Morisse gegenüber schilderte er sein Ungemach mit der Malerei:

Ein wahnsinniger Vorteil des Schreibens gegenüber dem Malen ist aber, dass es körperlich nicht anstren­gend ist – 8 Stunden Malen, und du hast wirklich einen Band­scheiben­schaden, diese verkrampfte Haltung. Das ist sowohl körperlich als auch seelisch an­stren­gend. Beim Schreiben ist es nur seelisch anstrengend. Dazu kommt die einfache Hand­habung des Text­körpers, wo man herrlich drin rumarbeiten kann.

Coverillustration zu Jürgen Roth: »Nullkultur. Feuilletons, Aufsätze, Glossen« (Ventil Verlag 2000)
Coverillustration zu Birkefeld & Hachmeister: »Wer übrig bleibt, hat recht« (Eichborn 2002)

Ab 2003 musste Wolfgang zur Illustratorenarbeit regelrecht überredet werden, wie in einem Mailwechsel mit dem Schriftsteller Frank Schulz zu lesen ist:

Ich schiebe diese Malauftraege immer wie Zahnarztbesuche vor mir her, das drueckt aufs Gemuet. Letzte Woche habe ich einen Titanic-Auftrag schmeissen muessen, aus Unfaehig­keit. Im grossen und ganzen bin ich wild­entschlossen, keinen Pinsel mehr anzuruehren und mich ganz auf meine neue, aeh – Taetigkeit zu konzentrieren.
Buchcover »In Plüschgewittern«

Wolfgangs neue Tätigkeit war das Schreiben von Romanen. 2002 debütierte er mit In Plüschgewittern. Es geht in diesem Roman um die seelische Versehrtheit eines Zeitgenossen – ohne dass in seinem Leben ernsthaft scharfe Geschütze zum Einsatz kämen. Holm Friebe schrieb über den Romancier Herrndorf später, er habe zwar die Malerei aufgegeben, aber eigentlich »nur das Ausgabeformat« gewechselt. Und tatsächlich: Auch Wolfgangs Texte sind geprägt von dieser fast unheimlichen handwerklichen Akribie, der Kenntnisfülle und dem Witz, die auch sein malerisches Werk auszeichnen.

Ich setze mich auf eine der Ledergarnituren, die aussehen wie Sitzbänke in amerika­nischen Autos, und schaue auf den Zigaretten­automaten. Im oberen Drittel des Automatens leuchtet ein riesiges Dia von einer strahlenden, hügeligen Herbst­land­schaft, und das irritiert mich, weil es so künstlich ist und zugleich so natürlich.

Während er nun mit Leidenschaft schrieb, verstaubten die Ergebnisse tausender Stunden Arbeit halb vergessen oder füllten aufeinander­gestapelt zahlreiche Mappen. Sie bedeuteten Wolfgang nichts mehr. Er hatte mit der Malerei abgeschlossen.



2001–2013
  Schriftsteller

Ab 2001 verbrachte Wolfgang sehr viel Zeit im Internet, bei den Höflichen Paparazzi, einem von Christian Ankowitsch und Tex Rubinowitz gegründeten Forum, das mit herkömmlichen Internetforen allerdings wenig gemein hatte. Bei den Paparazzi wurde nahezu alles ironisiert, aber es gab keine Smileys, kein »Herummeinen«. Sprache war eigentlich das Einzige, das ernst, geradezu übergenau genommen wurde. Die PaparazziChristian Ankowitsch / Tex Rubinowitz: »Wie Franz Beckenbauer mir einmal viel zu nahe kam« gebär­deten sich elitär, waren aber keine program­matische Gruppe von Berufs­schreibern, sondern ein vielstimmiger Mix ungewöhn­licher Charaktere. Tex Rubinowitz beschrieb das Forum als »beinharte stalinistische Schreibschule«, gleichzeitig war es aber auch eine ideale Prokras­tinations­plattform, die vermutlich einige Bücher verhindert, andere aber auch möglich gemacht hat. Zahlreiche Freundschaften, Liebes­beziehungen und Ehen wurden angebahnt und geschlossen. Für Wolfgang war das Forum der Höflichen Paparazzi viele Jahre lang der wichtigste soziale und intellektuelle Bezugspunkt.


Wolfgang im Alt-Berlin

In den Jahren ab 2001 beteiligte er sich auch an anderen Projekten, deren Initiatoren nicht selten dem Umfeld der Höflichen Paparazzi entstammten. So schrieb er einige Beiträge für das Blog Riesenmaschine, das u.a. von Kathrin Passig, Holm Friebe und Sascha Lobo gegründet wurde, und war häufiger Gast bei den Berlin Bunny Lectures, einer ironischen Talkshow im Berliner NBI, deren Moderatorinnen Ulrike Sterblich und Stese Wagner sich in ihren Rollen als »Supatopcheckerbunny« und »Hilfs­checker­bunny« mit naiver Überklugheit »Gedanken zu verschiedenen Themen« gemacht hatten. Und dann war da auch noch der Fußball: Einige Zeit war Wolfgang Mitglied der Autoren­national­mannschaft und trainierte unter Hans Meyer. Seine Herzens­mannschaft blieb jedoch mehr als ein Jahrzehnt die Gruppe »Karkossa«, die sommers in der Bergstraße, winters in einer Marzahner Halle kickte. Auch hier standen zahlreiche Autoren, wie Klaus Cäsar Zehrer, Jochen Schmidt oder Per Leo, auf dem Feld. Insgesamt war die Mannschaft aber inter­disziplinär besetzt und, wie es sich für eine Hobby­mannschaft gehört, gleichermaßen an Fußball als auch am Biertrinken interessiert.



Wolfgang im Fußballdress

2004
  Diesseits des Van-Allen-Gürtels

2004 fuhr Wolfgang nach Klagenfurt, um am Bachmann-Wettbewerb teilzunehmen. Für seine Erzählung Diesseits des Van-Allen-Gürtels erhielt er den Publikums­preis. Marius Meller lobte im Tagesspiegel: »Herrndorf, Jahrgang 1965, war die eigentliche Entdeckung des Wettbewerbs. Sein Schreiben erweckt den Eindruck, es sei ganz dicht an der Gegenwart, was immer das heißen mag, und trotzdem angeschlossen an die Literatur­geschichte: an Kafka, Beckett, Carver und die deutsche Popliteratur.«

Buchcover Diesseits des Van-Allen-Gürtels

Allerdings erschien der gleichnamige Erzählband mit sechs kurzen Geschichten erst drei Jahre später. Man konnte der Eindruck gewinnen, Wolfgang habe zu dieser Zeit nicht viel gearbeitet. Aber das Gegenteil war der Fall. Neben zahl­reichen Texten für das Forum schrieb er an vier Projekten gleichzeitig: Einem Jugendroman, einem Wüstenkrimi, einer Sci-Fi-Geschichte und einem »Stimmen-Roman«, wie er es nannte. Aber seine Neigung zur Selbstkritik hatte sich mit den Jahren nicht gemildert, eher verschlimmert. Die Projekte wurden umgeschrieben, verworfen, wieder aufgenommen – aber nicht fertig gestellt.

Ich muss nur einen dreizeiligen Absatz von mir lesen, der Unsinn ist, und ich frage mich, ob mein Leben einen Sinn hat, ob ich überhaupt noch existenzberechtigt bin als Person. Ob nicht alles, was ich jemals gesagt und gesprochen habe, vollkommen uninteressant ist.

2010
  Tschick und Sand

Anfang 2010 wurde bei dem damals 44 Jahre alten Wolfgang Herrndorf ein Glioblastom entdeckt, das sofort operiert werden musste. Der aggressive Gehirntumor konnte jedoch auch nach der Resektion jederzeit erneut wachsen, Motorik, Sprache und Persönlichkeit zerstören.

Die Aussicht auf einen baldigen Tod, womöglich auch eine durch die OP durcheinander geratene Gehirnchemie, führten zu einer manischen Episode. Wolfgang begab sich in ein psychiatrisches Krankenhaus. Ruhe, Rückzug und Medikamente, aber vor allem der Entschluss, die verbleibende Zeit schreibend zu verbringen, halfen ihm, sein Gleichgewicht wieder zu erlangen; eine Strategie, die er »Arbeit und Struktur« nannte.


Moleskine
Am besten geht’s mir, wenn ich arbeite. Ich arbeite in der Straßenbahn an den Ausdrucken, ich arbeite im Wartezimmer zur Strahlentherapie, ich arbeite die Minute, die ich in der Umkleide­kabine stehen muss, mit dem Papier an der Wand. Ich versinke in der Geschichte, die ich da schreibe, wie ich mit zwölf Jahren versunken bin, wenn ich Bücher las.
Tschick

Selbstzweifeln gab er keinen Raum mehr. Innerhalb weniger Monate stellte er seinen Jugendroman Tschick fertig.

Gleichzeitig schrieb Wolfgang an seinem Blog Arbeit und Struktur, das zunächst in einem geschlossenen Bereich der Höflichen Paparazzi nur für Forumsmitglieder, Freunde und Weggefährten einsehbar war und als unkompliziertes »Mitteilungsorgan« dienen sollte, später aber auf eine eigene Webseite umzog und für die Öffentlichkeit freigeschaltet wurde.

Früher hatte ich mir immer vorgestellt, daß die Nächte das Schlimmste am Sterben sind. Die Nächte, das einsame Liegen im Bett und das Dunkel. Aber die Nächte sind schön und leicht zu ertragen. Jeder Morgen ist die Hölle.

Hier schrieb er über das Sterben, das Glück, zu leben, die Schönheit der Welt und – genauso klar und schonungslos – über Abgründe, Verzweiflung und Zerfall. Präzise beobachtend drang er an die Grenzen des Denk- und Be­schreib­baren vor. Tschick ent­wickelte sich zu einem unerwarteten Bestseller. Doch um Preisverleihungen und Interview­anfragen wollte und konnte sich Wolfgang nicht mehr kümmern. Die letzte seiner ohnehin schon immer seltenen Lesungen fand 2010 im Roten Salon der Volksbühne statt.

Urlaubsfoto Fuerteventura
Urlaubsfoto Marokko

Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend. Epileptische Anfälle, verursacht durch das Narbengewebe im Gehirn, führten zu Wahrnehmungs­störungen und Zuständen der Ich-Auflösung. 2012 resümierte er:

Ein Jahr in der Hölle, aber auch ein tolles Jahr. Im Schnitt kaum glücklicher oder unglücklicher als vor der Diagnose, nur die Ausschläge nach beiden Seiten größer. Insgesamt vielleicht sogar ein bisschen glücklicher als früher, weil ich so lebe, wie ich immer hätte leben sollen. Und es nie getan habe, außer vielleicht als Kind.
Buchcover Sand

Im Herbst 2011 stellte Wolfgang seinen Wüstenroman Sand fertig. In die Zeit der letzten Korrekturen fiel eine zweite Gehirnoperation. Trotzdem arbeitete er jeden Tag, fuhr mit Freunden in den Urlaub, verbrachte viel Zeit am Berliner Plötzensee. In seinem letzten Lebensjahr zog er in eine Dachwohnung am Nordufer mit Blick über die Stadt.

Das Science-Fiction-Projekt in seiner Schublade verwarf er aus »Kompliziert­heits­gründen«, wie er in seinem Blog schrieb. Auf den »Stimmen-Roman« hatte er keine Lust mehr. Dessen Protagonisten waren für ihn uninteressant geworden, ganz im Gegensatz zu einer anderen Figur: Isa Schmidt, das Mädchen von der Müllkippe in Tschick.

Doch der Roman Bilder deiner großen Liebe musste Fragment bleiben. 2012 wurde ein weiteres Rezidiv entdeckt, das im Virchow-Klinikum umgehend operiert wurde. Wolfgang wusste, dass ihm nur noch sehr wenig Zeit blieb. Bereits nach der ersten Operation hatte er sich Gedanken über eine »Exit-Strategie« gemacht und sich eine Waffe besorgt.

Ich möchte sterben, sobald ich ohne Bewußtsein bin und eine Rückkehr in das vorige Leben unmöglich oder nur unwahrscheinlich ist, und zwar so schnell wie möglich. Unter Leben verstehe ich ein schmerzfreies Leben mit der Möglichkeit zur Kommunikation.

Zunächst war noch eine alternative Therapie mit dem Medikament Avastin möglich. Der Tumor hörte auf, zu wachsen, er bildete sich sogar zurück. Doch Wolfgang, seiner Familie und seinen Ärzten war klar, dass es sich nur um einen vorübergehenden Aufschub handelte. Wolfgang regelte seinen Nachlass, heiratete seine Lebensgefährtin und erklärte seine Wünsche bezüglich der posthumen Veröffentlichung von Arbeit und Struktur und Bilder deiner großen Liebe.


Im Sommer beschleunigte sich das Wachstum des Tumors radikal, er wuchs über den beide Gehirnhälften verbindenden Balken und war nicht mehr operabel. Wolfgang konnte kaum noch lesen. Das Schreiben fiel ihm immer schwerer, erst verschwanden Buchstaben, dann Worte. Am 26. August 2013 nahm er sich das Leben.


Notizen während eines Anfalls
Plötzensee
Niemand kommt an mich heran bis an die Stunde meines Todes. Und auch dann wird niemand kommen. Nichts wird kommen, und es ist in meiner Hand.
Kreuz am Ufer des Hohenzollernkanals

Posthume Veröffentlichungen

Bücher

Arbeit und Struktur Rowohlt Berlin, 2013

Bilder deiner großen Liebe: Ein unvollendeter Roman Rowohlt Berlin, 2015

Gesamtausgabe drei Bände im Schuber Rowohlt Berlin, 2015

Die Rosenbaumdoktrin und andere Texte Rowohlt Berlin, 2017

Stimmen: Texte, die bleiben sollten Rowohlt Berlin, 2018

Audio

Sandra Hüller: Bilder deiner großen Liebe
Ein großer Monolog mit Musik, tacheles/Roofmusic, 2018

Verfilmungen

Tschick Regie: Fatih Akin, Lago-Film, 2016

Theater

Tschick in der Theaterfassung von Robert Koall

Bilder deiner großen Liebe in der Theaterfassung von Robert Koall

Ausstellungen

Wolfgang Herrndorf: Bilder im Literaturhaus Berlin, 2015

Wolfgang Herrndorf: Bilder im Literaturhaus Stuttgart, 2015

Zitate. Bilder von Wolfgang Herrndorf im Literaturhaus München, 2016

Das unbekannte Kapitel. Wolfgang Herrndorfs Bilder im Kunsthaus Stade, 2017

Bilder einer großen Liebe. Bilder von Wolfgang Herrndorf im Rahmen von »Literatur Jetzt!«, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 2017

Ausstellungskataloge

Wolfgang Herrndorf: Bilder Hrsg. Ernest Wichner, Literaturhaus Berlin 2015

Das unbekannte Kapitel. Wolfgang Herrndorfs Bilder
Verlag Kettler 2017